Gefangen im Netz

'Wir haben kein Gesetz, um sie davon abzuhalten':
Im Internet und in den sozialen Netzwerken hinterlässt jeder Benutzer seine Spuren. Dann wissen Facebook oder Google, welche Filme er mag, welche Musik er hört oder was ihn sonst noch interessiert. Sie wissen auch, wo er sich aufhält und mit wem er spricht. Chronik eines Tages unter Beobachtung.

07:00 Uhr: Eine SMS schreiben. Die SMS zu verschicken ist kostenlos. Schön. Dazu wird eine App auf dem Smartphone benutzt. Der Empfänger hat diese App ebenfalls installiert. Die SMS wird auf einem US-Server abgelegt. Der Empfänger schaut lediglich darauf. Die SMS bleibt auf dem amerikanischen Server, egal, ob der Empfänger sie abruft oder nicht. Wollte der App-Hersteller und Serverbetreiber wissen, wann ich wem was geschrieben und welche Bilder ich geschickt habe, so könnte er das. Er wüsste dann auch, wem ich noch SMS mit seiner App geschickt habe und wem mein Empfänger noch SMS schreibt. Der App-Hersteller wüsste dann mehr als ich.

07:05 Uhr: Eine E-Mail verschicken - an mich selber. Dazu benutze ich ein kostenloses E-Mail-Programm im Web. Die E-Mail liegt jetzt auf dem Server des E-Mail-Dienstanbieters. Ich kann sie von überall abrufen. Fein. Der E-Mail-Dienstanbieter kann das auch. Alle meine E-Mails - die, welche ich jemals geschrieben habe, die, welche ich jemals erhalten habe - liegen auf diesem Server.

07:20 Uhr: Ein Bild bei Facebook einstellen. Das geht mit dem Smartphone. Ich knipse und sende es auf meine Facebook-Wall. Es gehört jetzt Facebook, sagt Facebook. Hätte ich Personen darauf markiert, dann wüsste Facebook, wen ich fotografiert habe. Da aber meine Freunde auf dieses Bild reagieren, weiß Facebook, mit wem ich dort deshalb Kontakt habe, was diese Freunde selber posten und wie wiederum ich darauf reagiere. Das von mir eingestellte Bild ist übrigens sofort auch in die Cloud kopiert worden. Ein feiner Service. Alle meine Geräte können nun auf dieses Bild zugreifen. Der Cloud-Betreiber auch.

07:40 Uhr: Facebook schickt mir Vorschläge, wen ich neben meinen vorhandenen Freunden noch zu meinem Freund machen könnte. Völlig unbekannte Leute, aber Freunde von Freunden. Ich habe mal nachgezählt. Ich habe mehr als 250 solcher Vorschläge von Facebook. Ich habe bislang alles 'öffentlich' gepostet. Das heißt, jeder konnte sehen, was dort auf meiner Wall steht, auch das, was mir andere daraufgestellt haben. Alles für alle, seitdem ich Facebook-Mitglied bin. Mir wird mulmig. Ich suche nach den Privatsphären-Einstellungen, um nur noch handverlesene Freunde sehen und posten lassen zu können.

08:40 Uhr: Nach langer Suche: Einstellung für Privatsphäre auf Facebook gefunden! Der aktive Freundeskreis ist nun eingeschränkt. Ich habe sogar meinen Namen geändert. Eine Studie des Verbraucherschutzministeriums sagt, dass über ein Viertel der deutschen Unternehmen die Namen ihrer Bewerber im Internet recherchieren. 36 Prozent durchsuchen auch soziale Netzwerke wie Xing, Facebook und LinkedIn. Große Unternehmen sogar zur Hälfte. Das war im Jahr 2009. Inzwischen dürften es mehr sein.

09:00 Uhr: Mein Handy kann von mir per GPS geortet werden. Ich kann es auf einer Landkarte sehen, wenn es verloren gegangen ist oder gestohlen wurde. Auch meine Freunde können mein Handy orten, wenn ich das zulasse. So können sie immer sehen, wo ich gerade bin. Ich habe die Ortungs-App Gowalla, die meine Daten an soziale Netzwerke übermittelte, deinstalliert.

Denn Gowalla wurde 2011 von Facebook übernommen. Laut CNN soll Gowalla für die Facebook-Funktion Timeline eingesetzt werden, mit der das soziale Netzwerk alle Daten eines Nutzers als seine Lebensgeschichte an den jeweiligen Ereignis-Orten zeigen will. Nutzer können dann gezielt von Geschäften in ihrer Nähe angesprochen werden. Facebook wird alle Nutzer in den nächsten Wochen auf die Timeline zwangsumstellen. Dann sollen Leben und Persönlichkeit von fast einer Milliarde Menschen als einsehbare Bio-Chroniken gelistet sein. Über das sogenannte Web-Tracking fließt in die Facebook-Timeline ein, was gehört, gelesen, angeschaut wurde.

09:20 Uhr: Ich habe gerade die offizielle US-Hilfeseite zur Facebook-Timeline angeschaut. Dort steht: Timeline zeigt 'die Filme, die du siehst, die Musik, die du hörst, alles, was dich beschäftigt. Es gibt nun soziale APPs, die ausdrücken, wer du bist, durch das, was du tust.' Facebook weiß, was mich beschäftigt, dementsprechend wird Werbung geschaltet. Am unteren Rand dieser amerikanischen Seite erscheinen übrigens diejenigen meiner deutschen Facebook-Freunde, die Timeline bereits nutzen - namentlich und mit Bild. Ich glaube nicht, dass sie das wissen.

11:00 Uhr: Was macht eigentlich die Facebook-Konkurrenz? Richtig: Google hat es Anfang März ein wenig übertrieben. Der Konzern hatte angekündigt, die Profile seiner Nutzer bei seinen über 60 verschiedenen Diensten künftig zusammenzuführen. Diese neuen Datenschutzrichtlinien erlauben Google nun, noch mehr Daten miteinander zu verknüpfen. Zu Google gehören neben der Suchmaschine unter anderem: YouTube, GMail, der Foto-Dienst Picasa, die Plattform Blogger, die Online-Office-Pakete Docs, das soziale Netzwerk Google+. Google liest nun auch mit, hört mit, sucht mit, schaut mit, schreibt mit.

Im offenen Brief der europäischen Datenschützer an Google-Chef Larry Page heißt es indes, dass es 'extrem schwierig ist, genau abzuschätzen, welche Daten aus welchen Diensten und zu welchem Zweck kombiniert werden.' Man bat um Verschiebung der neuen Richtlinien. Antwort: 'Google hat keine Möglichkeit, die weltweite Einführung unserer neuen Datenschutzregeln zu pausieren.'

11:30 Uhr: Die Werbung, die mir Facebook einblendet, ist für Frühlingsflirten, Guinness-Bier und Arthrose. Facebook weiß also doch nicht so viel über mich. Oder doch ...?

12:00 Uhr: Ende Februar wurde von Präsident Barack Obama der Entwurf einer 'Privacy Bill of Rights' vorgestellt, eines Menschenrechts auf Privatsphäre, das unter dem Schlagwort 'Do Not Track' (DNT) firmiert. Die Selbstkontrolle der US-Online-Wirtschaft reiche für die Sicherung der Privatsphäre nicht aus, heißt es in dem Weißbuch der US-Regierung. Tatsächlich bleiben in dem White-House-Report genaue Maßgaben aber aus. Die US-Regierung hat dafür die Hersteller der am weitesten verbreiteten Browser dazu vergattert, einen 'DNT'-Button zu implementieren, der Nutzern die Möglichkeit gibt, Internetfirmen zu blockieren, die ihren Spuren folgen, Nutzerprofile erstellen und die Daten an Dritte weitergeben. Wie der Senator von Massachusetts, John Kerry, sagt: 'Diese Firmen protokollieren jede Nutzerbewegung - in einem nicht mehr begreiflichen Maß. Sie können mit diesen Informationen tun, was sie wollen - wir haben bisher kein Gesetz, sie davon abzuhalten.'

12.10 Uhr: Ich habe das 'Do Not Track'-Plugin von Abine installiert - und bin schockiert. Ich sehe jetzt, dass bis zu 15 mir unbekannte Firmen meine Daten verfolgen wollen, wenn ich einen Artikel in 'Wired' online lese. Facebook ist immer dabei.
(Mittlerweise haben Browser schon integrierte DNT Module)

12.45 Uhr: Lese gerade in einer Studie des 'Deutschen Instituts für Vertrauen und Sicherheit im Internet' (DIVSI). Insgesamt 73 Prozent der deutschen Bevölkerung wünschen sich ein staatliches Datenschutz-Siegel für Angebote im Internet. Nur jeder zweite Deutsche sehe sich in der Lage, Risiken im Internet einordnen und darauf reagieren zu können.

14.00 Uhr: Habe bis gerade gebraucht, den Mitte Februar im New York Times Magazine erschienenen Artikel: 'Wie Firmen Ihre Geheimnisse erkennen' zu verdauen. Darin berichtet ein Spezialist des US-Warenhauses Target, wie diese Firma 'prognostische Analyse' anhand von Kunden-Daten und -Verhalten betreibt. Sie prognostiziert also, was man kaufen wird, weil sie - wie es in dem Artikel heißt - schon weiß, dass 'ein Teenager schwanger ist, bevor es ihr Vater weiß'. Das macht die Firma, um den Schwangeren zustandsgerechte Coupons zuzuschicken, allerdings so, dass sie sich nicht ausspioniert fühlen - und dann nichts mehr kaufen: 'Wir mixen die Coupons', flötet ein Manager, 'wir mischen Angebote für Weingläser neben Kinderbekleidung, für Rasenmäher neben Windeln. Die Damen fühlen sich nicht ertappt - und kaufen.'

16:00 Uhr: In der Europäischen Union gilt die vom Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat gebilligte Richtlinie 95/46/EG als Mindeststandard für den Datenschutz der Mitgliedsstaaten. In Deutschland wurde sie 2001 umgesetzt mit dem Bundesdatenschutzgesetz (BDSG), dem Datenschutz für die Bundesbehörden und den privaten Bereich. Daneben existieren noch die Datenschutzgesetze der Länder. Passagen zum Datenschutz finden sich auch im Telekommunikationsgesetz und dem Telemediengesetz. Warum sprechen dann Datenschützer vom 'gläsernen Surfer'? Ganz einfach. Weil deutsches Recht und Gerichtsbarkeit nicht in den USA gelten. Darum kann die Bundesverbraucherschutzministerin Ilse Aigner kaum mehr, als einen offenen Brief an Mark Zuckerberg, den Facebook-Gründer, zu schreiben, in dem sie ihn auffordert, 'die eklatanten Missstände zu beheben'. Andernfalls sehe sie sich 'gezwungen, meine Mitgliedschaft bei Facebook zu beenden'. Man weiß nicht, was Zuckerberg geantwortet hat. Vermutlich hat er kaum Zeit, bei seiner Firmenpolitik zu pausieren.

20:00 Uhr: Ich pausiere, weil mir der frisch installierte DNT-Button verrät, dass er bisher 245 Versuche von Fremdfirmen unterbunden hat, meine Daten zu sammeln.
Zehn Gebote der Netzsicherheit

Vergiss nicht: Das Netz vergisst nicht
Daten im Netz verwesen nicht. Sie können sie niemals völlig löschen, gleichgültig, wie dringend Sie das tun möchten. Denn das Netz vergisst nicht.Stelle nicht unbedacht deine Kinder ins Netz

Vorsicht beim Einstellen von Bildern, besonders denen von Kindern. Niemand weiß, wer sich das ansieht - und wozu.Traue niemandem
Digitale Identitäten in sozialen Netzwerken können frei erfunden sein.Finde die, die dich finden

Installieren Sie 'Do Not Track +' (http://www.abine.com/dntdetail.php) - und wundern Sie sich, wie viele Seiten Ihrem Surfverhalten an einem gewöhnlichen Nachmittag folgen!Verstehe die Grenzen deiner Freiheit 
(Mittlerweise haben Browser schon integrierte DNT Module)

Jeder kann sich frei im Netz bewegen - und sollte wissen, dass man nicht frei dabei ist. Denn man ist auch nicht allein.

Nutze keine zweifelhaften SMS-Apps.
Wenn Sie Apps zum kostenlosen Senden von SMS nutzen, sollten Sie wissen, dass Ihre Nachrichten auch auf unerreichbaren Servern gespeichert werden. Was dort damit geschieht, liegt nicht in Ihrer Hand.

Nutze keine zweifelhaften Mail-Programme
Dasselbe gilt auch für kostenlose E-Mail-Programme...Übe Vorsicht in den Wolken
... und für die Datenabgabe in 'Clouds', die Aufgaben eines lokalen Rechners übernehmen ('Wolken').Denke nach und voraus
Niemand weiß, was in 10 oder 20 Jahren mit den Daten von heute passiert. Klar ist nur: Sie werden noch gespeichert sein.
Füttere nicht die Falschen

Data-Mining, Auswerten von Daten zur Nutzerprofilierung, und die Schlüsse, die man aus dem Nutzerverhalten in sozialen Netzwerken ziehen kann, sind das Geschäftsmodell der Zukunft. Sie liefern das Futter. Sie sind das Futter. Bernd Graff
 
Googles Macht
Du willst mit Freunden an den Gardasee -
schon erscheint die Werbung fürs Strandhotel.

Neun von zehn Deutschen nutzen die Suchmaschine des Konzerns, wenn sie im Internet unterwegs sind
Von Varinia Bernau

Zwei Millionen Euro sind eine stattliche Summe. Eine Kellnerin müsste in Deutschland etwa hundert Jahre arbeiten, um zu so viel Geld zu kommen. Der Internetkonzern Google verdient diesen Betrag an einem einzigen Tag - und zwar fast ausschließlich mit Werbung. Was einst die Litfaßsäule in zentraler Lage war, das ist heute eine häufig angeklickte Internetseite: ein Ort, an dem viele Menschen vorbeikommen, mancher stehen bleibt - und es sich somit lohnt, eine Anzeige zu platzieren.

Googles Suchmaschine ist eine der meist besuchten Seiten im Netz. In Deutschland schauen neun von zehn Leuten, wenn sie etwas im Internet suchen, bei Google nach. Und wann immer einer von ihnen dort ein Stichwort eingibt, speichert ein Server in einem der Rechenzentren, die der US-Konzern quer über den Globus betreibt, aus welchem Land und von welchem Computer die Frage kam.

Der Server merkt sich auch, wie viele Treffer die Anfrage geliefert hat - und welche der Suchende anschließend tatsächlich angeklickt hat. Wer in Deutschland das Stichwort 'Golf' eingibt, erhält als obersten Treffer den Hinweis auf den Wagen von VW. In den USA taucht der Sport auf dem grünen Rasen weiter oben auf. Und direkt darunter stehen Anzeigen: für einen Laden, in dem es gute Schläger gibt, oder für einen Gebrauchtwagenhändler. Je besser Google die Suchenden kennt, desto besser werden die Treffer jeder weiteren Frage. Und desto besser kann Google die Anzeigen auf die verborgenen Wünsche derer zuschneiden, die im Netz unterwegs sind. Erst wenn sie auf die Annonce klicken, klingelt bei Google die Kasse.

Aber Google ist längst mehr als eine Suchmaschine: Etwa 70 Dienste bietet der Konzern - alle kostenlos. Seit März führt Google alle Daten, die das Unternehmen bislang für jeden Dienst einzeln gesammelt hat, zusammen. Wer einen Termin in seinem Google-Kalender eingetragen hat, wird rechtzeitig daran erinnert - per Nachricht auf Gmail. So versucht das Unternehmen die Internetnutzer an sich zu binden. Gleichzeitig kann Google seine Werbung noch gezielter platzieren. Ein Werbekunde annonciert also eher bei Google, weil er dort diejenigen erreicht, die sich für sein Produkt auch interessieren.

Bislang scannt Google die digitale Post in seinem E-Mail-Dienst Gmail. Wer dort seine Freunde fragt, ob man nicht mal wieder gemeinsam an den Gardasee reisen wolle, der sieht heute bereits in seinem Posteingang eine Anzeige für ein Hotel mit Seeblick. In Zukunft könnte Google dort dann auch noch Werbung für die passende Strandlektüre schalten, weil die Rechner genau registriert haben, dass man auf YouTube regelmäßig Lesungen von Max Goldt anschaut. Und wenn man sich dann auf der Suchmaschine nach einer Pizzeria umsieht, erscheint unter der Annonce vielleicht der Hinweis, dass es den Freunden von Google+ dort besonders gut gefallen hat.

Werbung, so schreibt der Konzern in seinem aktuellen Börsenbericht, sei letztlich eine weitere Antwort auf die Fragen der Internetnutzer. Google setzt seine Technologie nicht nur dafür ein, auf den eigenen Webseiten Anzeigen zu platzieren. Fast ein Drittel seiner Werbeumsätze macht das Großunternehmen auf anderen Internetseiten. Etwa zwei Millionen Partner hat Google dazu hinter sich versammelt - und erreicht so nach Schätzung des Marktforschungsunternehmens Comscore hierzulande neun von zehn Menschen, die sich quer durchs Internet klicken. Diese Partner sind zu einem kleineren Teil Web-Seiten, in die Googles Suchmaschine integriert ist - und die dann zur Suchanfrage mit dem Stichwort 'Mallorca' neben den Treffer auch gleich Anzeigen für den Ferienflieger liefern.

Zum weitaus größeren Teil aber sind es Nachrichtenportale oder Blogs, deren Texte Googles Großrechner nach 'relevanten' Stichworten durchforsten. Schreibt ein Blogger dort über seine Ferien auf Mallorca, taucht ebenfalls eine Anzeige für den Flug zur Insel auf. Von dem Geld, das die Fluglinie dafür zahlt, bekommen beide etwas ab: Der Blogger ebenso wie Google. Es sind nur kleine Beträge, aber sie rechnen sich. Im vergangenen Jahr hat Google mit Werbung im Netz insgesamt 37,9 Milliarden Dollar umgesetzt.

Bettelnde Grundrechte So mancher merkt zu spät, dass es ein Storno für Interneteinträge nicht gibt.Datenschutz ist keine abstrakte Angelegenheit, betrieben von ein paar komischen Heiligen.
Vom Ende der Privatsphäre: Datennutz und Datenschutz in den Zeiten des Internets
Von Heribert Prantl

Privatsphäre ist ein Wort aus vergangenen Zeiten; es gibt sie nicht mehr. Vielleicht ist diese Feststellung ein wenig übertrieben, aber nur ein wenig. Die Privatsphäre schrumpft, sie verhutzelt zu einem angeblich unzeitgemäßen Ding. Die Privatsphäre sieht aus wie eine Dörrpflaume; informationstechnische Systeme trocknen sie aus, sie ergreifen Besitz vom beruflichen und vom privaten Alltag der Menschen. All diese Systeme arbeiten natürlich nicht aus eigenem Antrieb; sie werden betrieben und sie werden gefüttert vom Staat und von der Privatwirtschaft.

Vor fast dreißig Jahren hat das Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung erfunden. Von einer Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger kann aber nicht die Rede sein. Es haben die staatlichen Ermittlungsmethoden massiv zugenommen, von deren Einsatz die Betroffenen gar nichts wissen. Das Fernmeldegeheimnis ist ein bettelndes Grundrecht geworden. Telefonüberwachung, Rasterfahndung, Lauschangriff - seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ist das, was es schon zuvor an staatlichen Überwachungsmaßnahmen gab, rasant ausgebaut worden.

Viele neue Maßnahmen kamen dazu: Die Ortung von Personen durch GPS, der staatliche Zugriff auf Bankkonten, die geheime Durchsuchung privater Computer, die Videoüberwachung. Die Speicherung sämtlicher Telekommunikationsdaten auf Vorrat, vom Bundesverfassungsgericht in seiner bis dahin praktizierten Form verworfen, wird gleichwohl mit Vehemenz gefordert. Es werden Personenkennziffern verteilt. Es wird veranlasst, dass die Menschen durch biometrische Fingerabdrücke und digitalisierte Konterfeis in den Ausweisen besser identifizierbar sind. Die Berufsgeheimnisse der Rechtsanwälte, Strafverteidiger, Ärzte und Journalisten sind zwar formell in Kraft geblieben; die neuen Überwachungsmethoden nehmen aber darauf keine Rücksicht.

Die Politiker und die Praktiker der inneren Sicherheit, die zur Vorbeugung immer mehr Überwachung fordern, sind wenig schuldbewusst. Sie verweisen nicht nur auf die Terrorgefahr, sondern auf den Exhibitionismus der Handy- und Internet-Gesellschaft: Die Menschen wollten, so sagen sie, ja ganz offensichtlich gar nicht mehr unbeobachtet und unbelauscht sein. Eine Gesellschaft, die ihre Intimitäten öffentlich und überall in die Handys posaune, habe das Fernmeldegeheimnis längst aufgegeben. Man brauche sich also über die steigenden Zahlen von Abhöraktionen gar nicht empören.

Hat die Gesellschaft also das Fernmeldegeheimnis, vielleicht gar den Datenschutz insgesamt, weggeworfen wie den Hausmüll?

Gewiss: Es gibt die Handy-Seuche. Und es gibt den alltäglichen Web 2.0- Narzissmus. Das Internet ist ein Entblößungsmedium, es wird lustvoll veröffentlicht, was früher nur in Tagebüchern stand und in Fotoalben klebte. So mancher merkt zu spät, dass es ein Storno für Internet-Einträge nicht gibt: einmal im Netz, immer im Netz. Mit der Privatsphäre im Netz ist es wie mit einem Ei: einmal aufgeschlagen, immer aufgeschlagen. Bisweilen kommen diese Erkenntnis und das Bedauern darüber zu spät. Jedenfalls: Aus der Datenaskese, die einst das Volkszählungsurteil und das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung herbeigeklagt hat, ist eine Datenekstase geworden, eine Selbstverschleuderung aller nur denkbaren Persönlichkeitsdetails in Wort und Bild. Was der Staat selbst nach dem 11. September 2001 nicht zu fragen und zu eruieren wagte - im Internet steht es nicht selten im Schaufenster. Eine staatliche Rasterfahndung in den sozialen Netzwerken kann womöglich erfolgversprechender sein als eine in den Dateien der Behörden.

Man mag die Handy-Posaunerei und die Selbstentblößung im Internet als Idiotie betrachten. Aber es ist immerhin selbstbestimmte Idiotie. Und es liegt darin nicht zugleich die Erlaubnis an Staat und private Wirtschaft, sich noch mehr zu holen.

Wer sein Fenster aufmacht, erteilt nicht die Erlaubnis, bei ihm einzusteigen und die Wohnung auszuräumen. Wenn einer sich halb auszieht, ist das nicht die Aufforderung an Dritte, ihn vollends zu entkleiden. Und wer im Großraumabteil der Bahn laut telefoniert, gibt dem Staat damit nicht die Erlaubnis, seine Telefondaten zu speichern oder seinen Computer anzuzapfen. Er gestattet seinem Arbeitgeber damit nicht, auf dem Klo und in den Umkleideräumen Videokameras zu installieren. Er ist auch nicht damit einverstanden, dass der Personalchef ihn ausspioniert und Dossiers über seine Macken und Krankheiten anlegt. Und erst recht willigt er nicht darin ein, dass seine Geheimnummern für Kreditkarten und elektronische Überweisungen auf dem freien Markt gehandelt werden.

Im Übrigen sind die Handy-Posaunisten und die Internet-Exhibitionisten noch lange nicht 'die Gesellschaft': Selbst dann, wenn Hunderttausende ausdrücklich und umfassend auf ihre Privatsphäre verzichteten, könnten sie das nicht mit Wirkung für Hunderttausende oder Millionen anderer Menschen tun.

Die Karlsruher Richter wollten vor knapp drei Jahrzehnten mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung den Bürger 'gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner Daten' schützen. Das war anrührend und weitsichtig - aber vergeblich. Sie warnten eindringlich vor einer Gesellschaftsordnung, 'in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß'.

Genau eine solche Gesellschaftsordnung hat sich entwickelt - auch deswegen, weil sich die Bürger allzu oft einwickeln lassen. Sammeln Sie Herzen? Jeder, der im Supermarkt einkauft, kennt diese Frage. Der Kunde, der seine Daten gegen Happy Digits tauscht, verzichtet auf den kleinen Widerstand an der Kasse. Er lässt sich durchleuchten und gibt mit der Kundenkarte seine Einwilligung dazu. Man muss lernen: Datenschutz beginnt mit Datensparsamkeit.

Datenschutz ist mehr als ein Datenschutz. Er schützt nicht nur Daten, er schützt viel mehr: Er schützt die Persönlichkeit, er schützt den Menschen. Er ist keine abstrakte Angelegenheit, betrieben von komischen Heiligen, die sich als Datenschützer wichtig machen. Er ist der Schutz der Menschen in der digitalen Welt - er ist das Grundrecht der Informationsgesellschaft.